Der Moment zwischen Angst und Erleichterung — Coming-out

Ein neues virales Coming-out Video hat, seit dem Upload vorgestern, bereits über 5 Millionen Views angesammelt:

Die Zwillinge Aaron und Austin Rhodes, Models aus Los Angeles, hatten bereits vor diesem Video einen erfolgreichen Youtube-Channel mit etwa 80000 Subscribers. Da sie bereits von Anfang an durch Auftritte in Videos von schwulen Youtubern, wie Davey Wavey aufgefallen sind, war es auch erahnbar, dass zumindest einer der beiden wohl schwul ist.
Die Brüder outen sich per Telefon bei ihrem Vater, der in Ohio wohnt, und zeigen dabei sehr rohe Emotionen. Den beiden ist anzumerken, dass sie wohl selbst nicht erwartet hatten, so heftig zu reagieren. Glücklicherweise ist ihr Vater verständnisvoll, wenn man ihm auch deutlich anmerkt, dass es nicht die besten Nachrichten für ihn sind.
Und wie üblich bei Coming-out Videos, konnte man die Reaktionen schon erahnen, bevor man die Kommentare auf Youtube, Buzzfeed und den meisten LGBT-Medien gelesen hatte.

Da gab es zum einen natürlich viele nette und unterstützende Kommentare, aber eben auch die üblichen hasserfüllten, oft obszönen und religiös motivierten Reaktionen. Davon werden alle Youtube Videos geplagt, die sich in irgendeiner Form mit Minderheiten auseinandersetzen. Wer mal ein paar Stunden so richtig den Glauben an die Menscheit verlieren will, der sollte sich die Kommentare zu einem beliebigen Video von Frauen, die über Computerspiele sprechen, ansehen. Oder die unter Videos über Trans-Themen, Homosexualität, religiöse oder ethnische Minderheiten. Da dieses Video der Brüder auch von Nicht-LGBTQ-Medien verlinkt wurde, hat sich hier aber ein besonders toxischer Pool angesammelt. Damit muss man aber (leider) rechnen und ich nehme an, dass die Rhodes-Brüder auch nicht sehr überrascht waren.

Mein eigenes Coming-out fand Ende der 90er statt und ich kann extrem gut nachvollziehen, wie sich die Rhodes-Brüder gefühlt haben. Ich besuchte ein sehr linksliberales Gymnasium, hatte einen bisexuellen besten Freund, war mir ziemlich sicher, dass es den meisten in meiner Familie ziemlich egal sein würde. Und trotzdem hat es Jahre gedauert, bis ich den Mut aufgebracht habe. Da war immer dieser leise nagende Zweifel im Hintergrund:
Was, wenn sie mich ablehnen? Was, wenn sie angewidert reagieren, nichts mehr mit mir zu tun haben wollen?
In den Momenten vorher rast das Herz, Horror-Szenarien beherrschen die Gedanken. Vielleicht lieber doch einen Rückzieher machen? Dann ist es raus: „Ich bin schwul.“
Die Zeit dehnt sich endlos, jetzt gibt es kein zurück mehr. Jeden Moment kann Hass hervorgesprudelt kommen, kann ein wichtiger Mensch sich vielleicht für immer abwenden.
Wie Austin Rhodes im Video perfekt ausdrückt:

Ich glaube wir sind uns nahe genug; ich glaube ich bin endlich an dem Punkt, an dem ich mich in der Lage fühle es dir zu erzählen. Ich möchte wissen können, dich hundertprozentig hinter uns stehen zu haben. Ich möchte nicht, dass du uns, irgendwie, nicht mehr liebst, oder so.

Und dann die unendliche Erleichterung, die Last die von den Schultern fällt. Selbst wenn die Reaktion dann neutral ist oder geschockt, zumindest ist die endlose Heimlichtuerei vorbei. Keine Lügen mehr, kein Versteckspiel.
Bei mir hat es dazu geführt, dass ich kurz darauf einen überraschend großen Freundeskreis aus Homo- und Bisexuellen hatte. Und trotzdem gibt es noch immer viele Personen in meinem Leben, mit denen ich nie darüber gesprochen habe, die wahrscheinlich nicht wissen, dass ich schwul bin. Es tauchen ziemlich regelmäßig Situationen auf, in denen ich ein „kleines Coming-out“ hinter mich bringen muss. Behandle ich meine Orientierung als offenes Thema am Arbeitsplatz? Bei einem Arztbesuch? Wenn ich neue Personen kennenlerne? Jedes Mal wäge ich sorgfältig ab, ob ich offen damit umgehe oder es verschweige. Und wenn ich mich fürs Schweigen entscheide, dann muss ich von da an auch bei jedem Gespräch sorgfältig nachdenken über alles was ich erzähle, die Scherze die ich mache, Einblicke in mein Privatleben die ich gewähre.
Zugegebenermaßen entscheide ich mich nur noch sehr selten fürs Schweigen. Inzwischen ist es mir ziemlich egal, was andere davon halten. Aber es kann auch heute noch in unserer Gesellschaft enorme Konsequenzen haben, wenn etwa der Arbeitgeber oder der neue Arzt homophob sind.

Was mich weitaus mehr erstaunt, ist die andere vielfach geäußerte Kritik, dass doch Coming-outs albern seien. Heute müsse sich doch niemand mehr wirklich outen, besonders nicht so öffentlich. Wen interessiere denn das noch? Meiner Meinung nach schwingt da immer ein wenig die Einstellung mit: „Ihr habt doch schon so viel erstritten, könnt ihr nicht mal langsam Ruhe geben? Redet doch einfach nicht drüber, dann lässt euch jeder in Ruhe“.
Ich habe ja schon vor ein paar Wochen hier darüber geschrieben, dass ich dieser Meinung nicht zustimmen kann. Öffentliche Coming-outs sind essentiell, um den Abbau von Homophobie voranzutreiben. Auch wenn die Zwillinge das Video nicht nur mit selbstlosen Motiven veröffentlicht haben, verschafft es ihnen trotzdem eine Vorbildfunktion. Das hängt eng zusammen mit den politischen Konzepten der „Politik der ersten Person“ und „Hilfe zur Selbsthilfe“.
Wie in meinem früheren Blog-Eintrag aufgelistet, sind die Statistiken für Suizid und gefährliches Verhalten für LGBTQ-Jugendliche immer noch dramatisch. Suizidversuche sind 2-3 mal so häufig bei homosexuellen/bisexuellen Jugendlichen. Ein Drittel der tödlich ausgehenden Suizide in diesem Alter ist auf Probleme mit der sexuellen Identität zurückzuführen. LBGTQ-Jugendliche haben außerdem häufiger mit Alkohol, Drogen, Self-Harm, Essstörungen und riskantem Sexualverhalten zu kämpfen. Etwa 50% der obdachlosen Teenager sind LBGTQ.

Ich glaube, es ist gerade für heterosexuelle Menschen oft auch schwierig nachzuvollziehen, wie sich ein Coming-out anfühlt und wie schwierig die Zeit vorher ist. Die meisten Homo-/Bi-/Pansexuellen werden sich ihrer Orientierung irgendwann im Alter zwischen Zwölf und Siebzehn bewusst, und kämpfen oft jahrelang erst im Stillen damit, lange bevor ein externes Coming-out (im Gegensatz zum internen Coming-out, dem Bewusstwerden) überhaupt denkbar ist. Zitat aus der Expertise zur Lebenssituation schwuler und lesbischer Jugendlicher in Deutschland der Uni Kiel:

Das Coming-out, d. h. der Prozess der Bewusstwerdung der eigenen Homo- oder
Bisexualität, erfolgt in der Regel zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr und ist in
einem gesellschaftlichen Kontext der dominant zu erwartenden heterosexuellen
Orientierung kein selbstverständliches Ereignis. In dieser Lebensphase leiden nach
allen bisherigen Studien die meisten schwulen und in leicht geringerem Maße auch
die lesbischen und bisexuellen Jugendlichen an subjektiv gefühlter Einsamkeit und
erheblichen Identitätsproblemen. Der Schritt in die Gewissheit, einer sexuellen
Minderheit anzugehören, ist auch heute noch mit negativen Gefühlen wie
Unsicherheit und Furcht verbunden. Die Hypothese ist weiterhin berechtigt, dass vor
allem ein frühes Coming out in mehreren Bereichen Diskriminierungserfahrungen
nach sich zieht, obwohl es prinzipiell die psychosexuelle Entwicklung erleichtern
könnte.
Sich in Familie und Schule zu outen ist keine Selbstverständlichkeit und wird als
erheblicher Stressfaktor wahrgenommen. Vor allem schwule Jugendliche haben mit
ihren Vätern große Probleme, die eigene Homosexualität mitzuteilen, ein nicht
unerheblicher Teil muss langfristig damit leben, von diesen wegen des Schwulseins
abgelehnt zu werden. Trotz aller Initiativen von Selbsthilfegruppen zur Elternarbeit ist
zu vermuten, dass auch heute die Beratungsmöglichkeiten für betroffene Familien
noch nicht ausreichen und die Akzeptanz von Homosexualität in der
Gesamtgesellschaft noch längst nicht so weit entwickelt ist, dass Eltern gelassen
reagieren können.
Probleme im Zusammenhang der weiteren psychosexuelle Entwicklung
Die Pubertät schwuler Jugendlicher unterscheidet sich erheblich vom
heterosexuellen Muster. Die statistische Verteilung homo- und heterosexueller
Gleichaltriger und die Diskriminierung homosexueller Lebensformen im Alltag führen
dazu, dass das Experimentieren mit Liebe, Sexualität und Partnerschaft deutlich
später beginnt und durch die geringeren Möglichkeiten, Liebesbeziehungen
einzugehen und öffentlich zu leben, gewisser Maßen lange Zeit unvollständig bleibt.
Aufgrund der Angst vor einem nicht gewollten Coming out können viele Jugendliche
ihre sexuellen Erfahrungen nicht im Kontext einer festen Beziehung erleben, was bei
den meisten sowohl den subjektiven Interessen widerstrebt als auch unter
gesundheitlichen Gesichtspunkten ein Problem darstellen kann.
Zudem ist zu vermuten, dass sich aufgrund der immer noch existierenden
Geschlechtsrollenzuschreibungen und des im Fremdbild einseitig auf Effeminiertheit
festgelegten schwulen Verhaltensstereotyps sehr differenzierte Probleme der
psychosexuellen Entwicklung von sich homosexuell entwickelnden Jungen ergeben,
die bisher empirisch noch nicht genügend erforscht sind.

Videos wie dieses, sind nicht nur eitle Selbstdarstellungen. Sie haben eine Vorbildfunktion, zeigen, dass ein Coming-out gut laufen kann mit positiven Folgen. In meiner eigenen Coming-out Phase gab es schlicht keine wirkliche Präsenz von Schwulen und Lesben in den Medien. Da waren ein paar vereinzelte Prominente, wie Hape Kerkeling, Ellen oder Hella von Sinnen. Dann Filme wie In & Out oder Birdcage. Aber als Teenager konnte ich mich mit all diesen Repräsentationen überhaupt nicht identifizieren. Einer der wichtigsten Momente für mich in dieser Zeit war, als ich den Film Beautiful Thing gesehen habe.
Da waren plötzlich Jungs ungefähr in meinem Alter, mit denen ich mich identifizieren konnte. Die ebenfalls mit denselben Zweifeln und Vorbehalten gekämpft haben. Und das war, wie man auf englisch so schön sagt, „mind-blowing“.

Wenn also heute alle paar Wochen ein neues Video auf Youtube auftaucht, oder eine Fernsehserie, ein Film, ein Buch, in dem wiedergespiegelt wird was ungeoutete Jugendliche fühlen, dann ist das fantastisch! Von daher kann ich Kommentare einfach nicht ernst nehmen, die den Sinn von öffentlichen Coming-outs in Zweifel ziehen.
Ich freue mich auf das nächste Video. Wenn auch nur ein Teenager irgendwo da draußen dadurch eine einfachere Zeit hat, dann ist es das absolut wert.

Links
Uni Kiel – Expertise zur Lebenssituation schwuler und lesbischer Jugendlicher in Deutschland – Prof. Dr. Uwe Sielert & Dr. Stefan Timmermanns.
Sexuelle Orientierung: Variationsvielfalt jenseits der Pathologie – Deutsches Ärzteblatt.
A systematic review of mental disorder, suicide, and deliberate self harm in lesbian, gay and bisexual people – BioMed Central Psychiatry.
Wikipedia – Politik der ersten Person.
Coming-outs – Immer noch notwendig? Ja!.
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