Coming-outs – Immer noch notwendig? Ja!

In den letzten Monaten ging es Schlag auf Schlag: Mehr Personen aus dem öffentlichen Leben als je zuvor haben sich mit Coming-outs an die Öffentlichkeit gewandt. Und jedes Mal hat es mich stutzen lassen, dass sowohl von innerhalb der LBGTQ-Community, als auch von außerhalb ähnliche Echos kamen: „Heute braucht sich doch keiner mehr zu outen! Wen interessiert’s?“

Guy Depressed

Gestern hat der bekannte Youtuber Connor Franta ein Video auf seinem Channel veröffentlicht, in dem er sich als schwul outet. Die erste Frage für die meisten ist vermutlich: Wer ist Connor Franta? Muss man den kennen? Nein, muss man nicht. Aber er hat einen der erfolgreichsten Channel auf Youtube, mit aktuell 3,6 Millionen Subscribers. Der überwiegende Teil dieser Anhänger ist, wie er auch, 24 oder jünger. Den größten Anteil stellen Teenager.
Das Echo war überwiegend positiv. Und trotzdem wieder überall die Frage: „Wen interessiert das denn heute noch? Coming-outs sind doch unnötig heutzutage.“
Franta reiht sich damit in eine lange Kette von Outings in den letzten zwölf Monaten ein. Apples CEO Tim Cook, Basketballer Derrick Gordon, Fußballer Thomas Hitzlsperger, Turmspringer Tom Daley, Schauspielerin Ellen Page und viele mehr. Und anders als noch vor wenigen Jahren, sind es nicht nur Personen aus dem künstlerischen Bereich und hin und wieder ein Politiker, sondern eben auch Sportler, Businessmanager und religiöse Figuren.

Brauchen wir Coming-outs noch? Für mich heißt die Antwort eindeutig: „Ja! Unbedingt!“
Als ich ein Teenager war in den Neunzigern, gab es kaum Personen in der Öffentlichkeit, die mir als Vorbild hätten dienen können. Und erst recht nicht welche unter 30. Mir wäre sehr geholfen gewesen, wenn mir nicht im Fernsehen, Kino und allgemein in den Medien, suggeriert worden wäre, dass Homosexualität etwas „unnormales“ und „peinliches“ ist. Sicher, da gab es die Skandale um Hape Kerkeling, Hella von Sinnen, Alfred Biolek und anderen. Aber wirklich offen konnten sie damit nicht umgehen, und wenn sie es wagten, dann machte sich die Öffentlichkeit lustig über sie oder hakte es als „schrulliges, abnormales Verhalten“ ab.

Und wenn man sich die Statistiken zu LBGTQ-Jugendlichen ansieht, dann hat sich die Situation zwar verbessert, aber ist noch immer nichts zum Feiern. Zwar sind Zahlen über Deutschland sehr viel schwerer zu finden, aber ich bezweifle, dass sie sich dramatisch von denen aus den USA und Großbritannien ändern:
82% der LBGTQ-Jugendlichen berichteten über Mobbing und verbale Gewalt im Schulalltag.
44% berichteten über physische Auseinandersetzungen. 22% erfuhren physische Gewalt. 66% haben diese Vorfälle nicht gemeldet.
Diese Raten sind zwei- bis dreimal so hoch im Vergleich zu anderen Teenagern.
Selbst Jugendliche die sich selbst nicht als LBGTQ bezeichnen, aber von ihren Mitschülern irrtümlich so eingeordnet werden, werden zu Opfern.
26% der LBGTQ-Jugendlichen bezeichnen fehlende Akzeptanz, Angst vor dem Coming-out und Diskriminierung als ihre größten Probleme. Für andere Teenager sind mit 22% Probleme mit Noten, Lehrern und Unterricht das größte Problem.
Suizidversuche sind viermal so häufig bei LBGTQ-Jugendlichen. Bei denen, die auch von Familie und Freunden nicht akzeptiert werden steigt diese Rate auf das Achtfache. Ein Drittel der tödlich ausgehenden Suizide in diesem Alter ist auf Probleme mit der sexuellen Identität zurückzuführen.
LBGTQ-Jugendliche haben außerdem häufiger mit Alkohol, Drogen, Self-Harm, Essstörungen und riskantem Sexualverhalten zu kämpfen. Etwa 50% der obdachlosen Teenager sind LBGTQ.

Letzte Woche nahm sich der 12-jähriger Ronin Shimizu das Leben, nachdem er unerbittlich von seinen Mitschülern gemobbt wurde. Dafür, dass er im Cheerleader-Team seiner Schule war. Er wurde gnadenlos als „Fag“ und schlimmeres beschimpft, bis seine Familie gezwungen war, ihn aus der Schule zu nehmen. In dem Alter hatte er vermutlich noch gar keine Ahnung wie seine sexuelle Orientierung ausfallen würde.

In einer perfekten Welt wäre es total egal, welche sexuelle Orientierung oder Gender-Identität jeder von uns hat. Aber leider leben wir nicht in einer perfekten Welt. Und das berücksichtigt noch nicht einmal meine priviligierte Position, weil ich das Glück hatte in einem westlichen Industriestaat geboren zu werden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie grauenhaft es wäre, als schwuler Mann in all den Ländern leben zu müssen, in denen ich dafür im Gefängnis landen würde oder sogar in Gefahr liefe gesteinigt zu werden. Jede Person der Öffentlichkeit, die es wagt sich zu outen, trotz den potentiellen negativen Folgen, hilft irgendwo einem Jugendlichen, der oder die plötzlich eine Identifikationsfigur hat. Der Kampfslogan „It Gets Better“ ist absolut wahr – als Erwachsener lässt dieser ganze Leidensdruck dramatisch nach für die meisten – aber für viele Teenager ist das nur schwer zu sehen.

Und bis dahin applaudiere ich Connor Franta, Tom Daley, Thomas Hitzlsperger, Tim Cook und all den anderen, die den Schritt wagen. Wenn sie damit nur einem Ronin Shimizu helfen können, nur einen einzigen Selbstmordversuch verhindern, indem sie zeigen, dass es irgendwann besser wird, dann war es das wert.
Und wem das nicht passt, soll halt nicht hinsehen.

Quellen
National Coming Out Day: It’s okay to be gay. – Sixth Sense Magazine.
It Gets Better Project.
LGBT Bullying Statistics – nobullying.com.
Facts about Suicide – The Trevor Project.
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Ein Kommentar

  1. Pingback:Der Moment zwischen Angst und Erleichterung — Coming-out - Verbloggt - Tim Spohn

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