Hinten im Bus – Gewalt und Notrufe

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Foto: purplemattfish CC BY-NC-ND 2.0

Seit einigen Wochen sitzt dieser Text hier in meinen Entwürfen und ich habe gezögert, ihn tatsächlich zu veröffentlichen. Weil er sich so privat anfühlt und Erinnerungen betrifft, die ich nur mit sehr wenigen Menschen geteilt habe. Weil er Erfahrungen wieder hochholt, die mich mehr geprägt haben, als mir oft bewusst ist. Weil es mir peinlich ist, über das alles nachzudenken und es nach so langer Zeit, mehr als 15 Jahren, wieder auszugraben.
Also habe ich den Entwurf immer wieder mal rausgesucht, aber dann doch wieder weggeklickt. Alte Wunden lieber in Ruhe lassen, spielt ja auch keine Rolle mehr heute, alles so lange her. Wen interessiert das denn noch heute?

Dann las ich diese Woche wie zwei schwule Männer, die an einer Gegendemonstration zu Pegida teilgenommen hatten, sich danach in Dresden verirrten und schließlich den Notruf wählten, als sie sich umzingelt und bedroht fühlten.
Nur dass der Notruf keine Lust hatte zu helfen. Tja, Pech. Es folgt im Text eine zweite, sehr ähnliche Story von 2010 in Stuttgart, bei der die Polizei ebenfalls nur Desinteresse an einem Notruf zeigte.
Und dieser Bericht hat mich nachdenklich gemacht. Weil mein ungeliebter Entwurf auch mit der Polizei zu tun hat und sich plötzlich, trotz des Alters der Erinnerungen, wieder aktuell anfühlt. Der Gedanke, die 112 zu wählen und spöttisches Desinteresse entgegengebracht zu bekommen, lässt Übelkeit in mir aufsteigen.

„Euch geht es doch gut heute! Ist doch alles kein Thema mehr heute“, höre ich häufig, wenn es um Homophobie geht, um Gewalt gegen LGBTQIA, um Diskriminierung und Ausgrenzung. „Ihr nehmt euch immer so wichtig. Solange ihr das nicht so offen vor euch rumtragt, wen interessiert denn, mit wem ihr ins Bett geht?“
Oder um das zu übersetzen: Ihr nervt, weil ihr ständig auf eurer sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität herumreitet. Wenn ihr einfach still und unauffällig wärt, dann würde euch auch nichts passieren.
Tatsächlich findet man auch in den Medien nur noch sehr selten Berichte über homophob motivierte Gewalt. Scheint ja also wirklich kein großes Thema mehr zu sein, oder? Sonst müsste man ja ständig darüber lesen.
Doch dann stöbert man ein wenig und findet plötzlich Statistiken, wie jene aus Österreich in der jede zwanzigste LGBTQIA-Person angab schon Erfahrungen mit Gewalt gemacht zu haben. Man liest von Angriffen in Freiburg, Berlin, Stuttgart – gerade in den Großstädten, den modernen Studentenhochburgen. Letzte Woche stürmten Vermummte eine Schwulenbar in Zürich und griffen die Gäste mit Pfefferspray an. Da liest man von Marcel Rohrlack von der grünen Jugend, der nach dem CSD in München angegriffen wurde.
Alles Einzelfälle. Alles Ausnahmen. Deutschland, Österreich und die Schweiz sind doch aufgeklärt und weltoffen und tolerant. Die 225 dokumentierten Fälle von Gewalt gegen LGBTQIA in Berlin 2014: Viele Einzelfälle. Viele Ausnahmen. Und das sind ja nur die gemeldeten Angriffe. Die Dunkelziffer nicht gemeldeter oder als homophob/transphob erkannter Gewalttaten wird auf über 90 Prozent geschätzt.

Womit wir wieder bei meinem Entwurf wären und wieso mich der Bericht über den spöttischen Notruf so unruhig gemacht hat.
Weil ich selber Erfahrung mit Gewalt gemacht habe, weil ich schwul bin. Weil ich das Gefühl der Hilflosigkeit und Scham kenne, denn da ist diese kleine Stimme im Hinterkopf, die flüstert: „Bist du nicht ein bisschen selbst schuld? Hättest du dich unauffälliger verhalten, wärst du vorsichtiger gewesen, wärst du am besten erst gar nicht schwul geworden, hättest dich gezwungen normal zu sein, nicht so ein ekliger Homo.“
Als ich 17 war, habe ich meine ersten vorsichtigen Schritte in die Schwulenszene gewagt, habe zum ersten Mal andere Homos kennengelernt. Nach einem Besuch in einer Bar bin ich mit dem Bus nach Hause gefahren. Dummerweise habe ich mich so happy und frei gefühlt, dass ich nicht aufgepasst habe, wer mich vielleicht dabei beobachten könnte, wie ich andere Männer zum Abschied umarme. Ein dummer Fehler.
Genauso wie es ein Fehler war, mich im nahezu leeren Bus ganz nach hinten zu setzen. Wo ich mich kurz darauf umzingelt fand von mehreren jungen Männern. Die mich verspotteten, auslachten und verprügelten. Die richtig viel Spaß daran hatten, wieviel Angst und Scham auf meinem Gesicht abzulesen waren.
Als ich schließlich ausstieg, hatte ich die längste halbe Stunde meines Lebens hinter mir, eine dicke Lippe, ein geschwollenes Gesicht. Natürlich waren meine Eltern entsetzt und meine Mutter schleppte mich am nächsten Tag zur Polizei. Allerdings war ich zu diesem Zeitpunkt nicht geoutet. Es kam absolut nicht in Frage, dass meine Eltern erfuhren, wieso ich angegriffen worden war. Die ganze Situation auf dem Polizeirevier war wie ein surrealer Horrorfilm. Der nette Beamte mittleren Alters nahm meine Anzeige auf, während wir umgeben waren von anderen Polizisten, während meine Mutter neben mir saß, völlig außer sich.
Und alles woran ich denken konnte war: „Was, wenn er mir irgendwie ansieht, dass ich eine Schwuchtel bin? Was, wenn er mehr Fragen stellt und herausfindet, wo ich gewesen bin? Was, wenn seine freundliche Miene jeden Augenblick entgleist und ersetzt wird durch Ekel?“
Also habe ich gelogen und eine wenig glaubhafte Story gesponnen. Die Beschreibung der Täter war frei erfunden, denn ich wollte natürlich nicht, dass sie jemals gefunden wurden. Und erwartungsgemäß verlief die ganze Angelegenheit rasch im Sand.

Das Gefühl, der Polizei nicht vertrauen zu können und sich vor Wildfremden outen zu müssen – ich wage zu behaupten, dass es der Hauptgrund dafür ist, dass so wenige Gewalttaten gegen queere Menschen tatsächlich zur Anzeige gebracht werden.
Heute gibt es in den meisten größeren Städten spezielle Ansprechpartner für LGBTQIA bei den Polizeibehörden. Aber wenn man den Notruf wählt ist man dem Zufall ausgeliefert. Wie viele Polizisten marschieren privat bei Pegida mit? Wie viele Beamte sind Teil der „Demo für Alle“, Mitglied der AfD/NPD/Republikaner?
Wenn ich also eine Story lese, in der ein Notruf mit Hohn und Spott beantwortet wird, steigt Übelkeit in mir auf. Weil ich mich daran erinnere, wie es war, da hinten im Bus zu sitzen. Wie es sich angefühlt hat vor einem Polizisten zu sitzen und ihn anzulügen, weil die Alternative gewesen wäre, mich zu outen. Wie es ist, sich über Jahre hinweg Vorwürfe zu machen, weil man nicht vorsichtig genug war, nicht unauffällig genug, nicht normal genug.

Das alles ist lange her, fast mein halbes Leben. Es ist mir etwas peinlich, dass mich das alles noch heute beschäftigt, noch nicht ganz zu den Akten gelegt worden ist.
Trotzdem habe ich nach all den Jahren immer noch ein nervöses Gefühl hinten im Bus. Vielleicht wird auch niemals genug Zeit vergehen, um diesen ängstlichen, hilflosen, beschämten Funken in meinem Bauch wegzubekommen.
Aber Homophobie und Gewalt sind ja heute glücklicherweise kein Thema mehr. Zumindest für die klugen, netten, unauffälligen, stillen und gut angepassten Queers. Hurra.

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3 Kommentare

  1. Toller Text.

    Ich muss bei den von Dir beobachteten Aussagen („Was wollt ihr denn *noch* alles?“ + „Stellt mal nicht so Eure Sexualität in den Vordergrund, dann passiert Euch auch nix!“ Letztere von einem Typen, der gerade stolz seine Kinderfotos gezeigt hat. Wer stellt denn hier bitte seine Sexualität zur Schau? 😉 ) immer brechen und kann Deine Erfahrungen voll bestätigen.

    Auch ich erlebe und erlebte regelmäßig Gewalt und Hass. In Köln. Es ist eben nicht alles gut und es wird auch nicht alles better.

    • Gerade in Köln, sowas wie dem deutschen San Francisco, sollte man ja anderes annehmen. Tut mir leid, dass du auch damit zu hattest und noch hast <3

  2. Ich muss zugeben: Ich persönlich habe nie direkte, physische Gewalt erlebt. Ich weiß nicht, wie es ist, vor Menschen stehen zu müssen und ihre Kaltblütigkeit und Skrupellosigkeit am eigenen Leib spüren zu müssen. Dennoch höre ich fast tag täglich davon, dass es anderen passiert – von Berichten, Blogeinträgen, oder Erzählungen – und jede Zeile fühlt sich als, als würde sich mein Magen umdrehen. Neben der Wut und der Enttäuschung, schießen mir auch Fragen durch den Kopf wie… Passiert mir das auch irgendwann? Was ist, wenn es mir passiert? Was mach ich dann? Ich bekomme Angst. Ich meine, ist das nicht total traurig? Während sich heterosexuelle Menschen hinstellen und die Augen bewusst verschließen, sich nicht informieren und in die Welt posaunen, dass alles wunderbar wäre und Minderheiten in Sicherheiten wären, sitzt ein 19 Jähriger, junger Mensch allein in seinem Zimmer in Berlin und traut sich nicht, sein Leben zu leben. Und so geht es unzähligen LGBTQ+ Menschen.

    Natürlich wird mir dann gesagt „Hey, du darfst dir dein Leben nicht diktieren lassen!“ und „Trau dich ruhig!“, aber wenn man mir im selben Atemzug genaustens erklären muss, welche Straßen und Bezirke ich um wie viel Uhr meiden sollte, welche Bars und Straßen ich nicht allein aufsuchen sollte, welche öffentlichen Verkehrsmittel ich wo und wann nicht nehmen sollte, weil sonst mein Leben ernsthaft gefährdet ist, dann frage ich mich… auch wenn ich nie Probleme hatte, mich zu akzeptieren und meine Mutter immer hinter mir stand und steht… ist meine Gesundheit, psychisch wie auch psychisch, das alles wirklich wert? Sind es meine auffälligen Haare wert, ein blaues Auge zu bekommen? Ist es mein Regenbogenbutton als Zeichen, dass ich mich eigentlich nicht unterkriegen lasse, wert, eine blutige Lippe zu bekommen? Ich weiß es nicht. Aber ich lebe nur einmal und selbst wenn ich morgen wegen irgendjemanden sterbe, möchte ich bis dahin ein Leben geführt haben, ohne Reue darüber, etwas nicht getan zu haben.

    Das ist ein wunderbarer Blogeintrag und es berührt mich, dass du so eine dramatische Sache mit uns geteilt hast. Danke dafür.

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