Bildungspläne – LGBTQ-Jugendliche und Ahnungslosigkeit

„Ich glaube, dass der Aufklärungsunterricht, den ich in der Schule hatte, unzureichend war. Ich denke die jetzige und zukünftige Regierungen müssen einen stärkeren Fokus auf dieses Thema legen. Der Aufklärungsunterricht, den ich erhalten habe, war mangelhaft und ich wurde nicht genügend informiert. Wenn ich mit siebzehn mehr gewusst hätte über diese Themen, dann hätte ich bestimmt anders gehandelt.“

Bullied

Foto: Lee Morley – JLM Photography. CC BY-NC-ND 2.0

Das schrieb James Hanson (heute vierundzwanzig Jahre alt) letzte Woche, nachdem eine britische Studie des National Aids Trust (NAT) veröffentlicht wurde. Er hat sich mit achtzehn Jahren mit HIV infiziert und findet harsche Worte für die mangelhafte Aufklärung an britischen Schulen:
„Ich erinnere mich daran, in einem Klassenzimmer voller Jungs gesessen zu haben, mit zuviel Angst, als dass ich Fragen gestellt hätte. Mit vierzehn wusste ich, dass ich schwul bin. Ich wusste, dass ich mich zu Jungs hingezogen fühlte und nicht zu Mädchen, und es verwirrte mich, dass mir nichts über Beziehungen zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts beigebracht wurde. Ich traute mich nicht, meine Lehrer anzusprechen – sie sprachen nie darüber, also nahm ich an, dass es falsch sei, schwul zu sein.“

Genau dieses Thema beschäftigt ja seit mehreren Jahren auch bei uns in Deutschland eine ganze Reihe Landesregierungen. Die Eltern-Demos trampeln seit Anfang letzten Jahres durch die Landschaft, aufgehetzt durch absichtliche Fehlinformationen, die man immer noch ständig widerlegen muss. Etwa die Behauptung, dass die Änderungen an den Lehrplänen darauf zielten, Kinder frühzeitig zu sexualisieren. Da wird vor allem oft das lächerliche Beispiel mit der angeblichen Planung eines Puff-Besuchs gerne herausgekramt.
Die Organisation SchLAu, die an Schulen aufklärende Kurse durchführt, sieht sich weiterhin regelmäßig gezwungen, solche bizarren Behauptungen zu widerlegen. Wobei das kein Wunder ist: Wie sich vor Kurzem herausstellte, wurden und werden die Eltern-Demos von der AfD-Europaabgeordneten Beatrix von Storch organisiert. Der Rest ihrer Partei ist auch an vorderster Front mit dabei, wenn es darum geht, falsche Fakten zu streuen und ausgiebig zu hetzen.

Die Studie aus Großbritannien mit dem Titel Boys Who Like Boys zeigt aber wieder, wieso frühzeitige Aufklärung und ein offenes Schulklima so unersetzlich sind:
1096 männliche Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren die sich selbst als MSM identifizierten (Men who have Sex with Men) wurden befragt, die größte Gruppe, die in den UK jemals für eine solche Studie erfasst wurde.
Drei Viertel der Jugendlichen gaben an, nie Informationen, Rat oder Unterstützung zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen im Unterricht erhalten zu haben.
55 Prozent der Teenager gaben an Erfahrung mit Mobbing und Diskriminierung gemacht zu haben. Davon gaben 39 Prozent an, dass sie sogar von Lehrern gemobbt und diskriminiert wurden.

Und diese Zahlen machen mich unglaublich wütend. Der Verfasser der ersten Online-Petition gegen den Bildungsplan in Baden-Württemberg ist ein Lehrer. Wie furchtbar muss es für einen LGBTQ-Teenager sein, so jemanden im Unterricht zu haben?
Die Suizidraten für queere Jugendliche sind nach wie vor vier bis sieben Mal so hoch wie bei anderen Teenagern. Wie man ernsthaft gegen Maßnahmen sein kann, die Mobbing und Diskriminierung bekämpfen, will mir nicht in den Kopf.
Natürlich waren einige der ersten Kommentare bei uns zu der britischen Studie, dass sich das ja gar nicht auf Deutschland übertragen ließe. Leider gibt es vergleichbar umfangreiche Studien hier meines Wissens nach (noch) nicht. Aber ähnliche Untersuchungen in kleinerem Rahmen, wie etwa die vom LSVD veröffentlichte Pilotstudie Lebenssituationen und Diskriminierungserfahrungen von homosexuellen Jugendlichen in Deutschland oder die, ebenfalls vom LSVD herausgebrachte, Studie Akzeptanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen zeigen vergleichbare Ergebnisse.

Ich persönlich halte die Situation hier nicht für besser. Besonders die Zahlen zu HIV-Aufklärung der britischen Studie dürften bei deutschen Teenagern nur unwesentlich anders aussehen. Seit Jahren steigen die Infektionsraten gerade bei jungen MSM wieder stetig an. Unter den britischen Jugendlichen gaben ein Drittel an, nie Informationen zu HIV-Übertragung und Safer Sex erhalten zu haben, zwei Drittel wussten nichts über HIV-Tests, weder an wen sie sich wenden könnten, um sich testen zu lassen, noch wie ein solcher Test genau funktioniert. Selbst solche alten Märchen wie die Übertragung von HIV durch Küssen halten sich immer noch. Ich hätte angenommen, dass sich das inzwischen erledigt hat.
Wichtige Informationen, wie etwa über die Postexpositionsprophylaxe (PEP), mit der bis zu 72 Stunden danach noch eine mögliche Infektion verhindert werden kann, sind fast unbekannt unter Jugendlichen. Dazu kommt die immer weiter verbreitete Einstellung, auch unter erwachsenen MSM, dass HIV ja heute nicht mehr so tragisch sei, dank moderner Behandlungsmethoden.

In Baden-Württemberg wurde der neue Bildungsplan auf 2016/2017 verschoben. Die Eltern-Demos marschieren seit Anfang des Jahres wieder durch verschiedene Städte. Rechte, konservative Gruppen wie die AfD haben mit ihrer gezielten Streuung von falschen und irreführenden Informationen erfolgreich dafür gesorgt, dass sich die Diskussion festgefahren hat und alleine die Erwähnung von Lehrplänen jedes logische Argument untergehen lässt.
Ich kann wirklich nur hoffen, dass sich die Landesparlamente nicht beirren lassen und noch mehr Bundesländer die Themen Akzeptanz und sexuelle sowie geschlechtliche Vielfalt ganz selbstverständlich in ihren Lehrplänen verankern. Thüringen, Berlin, Schleswig-Holstein, Niedersachsen – in einer ganzen Reihe Länder wurde oder wird daran gearbeitet, im Unterricht nicht mehr länger (lebens-)wichtige Themen totzuschweigen.
Gerade der umstrittenste Teil der Bildungspläne, Konzepte wie Toleranz, Akzeptanz und Vielfalt bereits in der Grundschule zu vermitteln, wäre ein wichtiger Schritt: 62 Prozent der Grundschüler benutzen schwul und Schwuchtel regelmäßig als Schimpfwort.
Erst bei den Teenagern anzusetzen, um dem entgegenzuwirken, ist dann auch schon zu spät.
Und während all diese Demos und Petitionen und polemischen, fehlinformierten Debatten vor sich hinbrodeln, sitzt die nächste Generation von LGBTQ-Teenagern in den Schulen und darf sich immer noch mit Mobbing, Diskriminierung und unzureichenden Infos zu Safer Sex begnügen.
Ich krieg mich kaum ein vor Freude.

Interessante Links
Lebenssituationen lesbischer und schwuler Jugendlicher – Coming-out Day.
Research shows 1 in 5 gay and bi teens have been bullied by a teacher – PinkNews.
The Teachers‘ Report (2009) – Stonewall.
The School Report (2012) – Stonewall.
Does it get better? A longitudinal analysis of psychological distress and victimization in lesbian, gay, bisexual, transgender, and questioning youth..
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